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Keine Lieder

von Christina Kettering (D)

Begründung der Jury

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Marc, Ella und Linda sind Außenseiter und fliehen vor der sozialen Ausgrenzung durch die angepasste Mehrheit ihrer Mitschüler in ihren verschworenen Dreier-Club, der sich regelmäßig  in einer verlassenen Fabrikhalle trifft. Hier bestärken sie sich gegenseitig in ihrer Exklusivität, aber eben auch in ihrer unverbrüchlichen Freundschaft und Zusammengehörigkeit durch die Heimlichkeit, mit der sie ihre Rituale vor der Öffentlichkeit schützen. So wird das Auftauchen eines Neuen, den Ella eines Tages mitbringt, von den beiden anderen als Störung und unbotmäßiges Eindringen empfunden. Vor allem Marc fühlt sich durch den älteren und selbstsicher auftretenden Adrian verunsichert und persönlich in Frage gestellt, zumal er sich von Ella auch als Kind schon einmal verraten sah und somit besonders sensibel auf die neue Situation reagiert.

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Das Stück protokolliert im Folgenden aufs Genaueste die allmähliche Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb des Systems, der Einflussmöglichkeiten seiner Mitglieder sowie ihrer sozialen Wertigkeiten und macht durch den präzisen Erzählduktus die Befindlichkeiten der Protagonisten empfindlich spürbar.

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Dies gelingt vor allem aufgrund der raffinierten Gesprächsführung, die durch unvermittelte Wechsel zwischen Spiel- und Erzählpart vielschichtige Perspektiven samt deren Kommentierung sichtbar werden lässt. Außerdem erlaubt diese Erzählmethode die Abwesenheit der 4. Figur – des Störenfrieds - auf der Bühne: Adrian wird nicht gespielt, er wird nur erzählt.

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Marc generiert sich mehr und mehr als Opfer von Adrians Angriffen, die anfangs verdeckt und später immer offener zutage treten und auf die die Mädchen unterschiedlich reagieren. Eine Kindheitserinnerung an einen Ertrinkenden, dem trotz offensichtlicher Not keiner der anwesenden Zeugen hilft, wird wie eine Metapher in die Beziehungsgeschichte eingeflochten und wirft für den Zuschauer Fragen auf: Wer hat welches Recht woran, wer hat welchen Anspruch an wessen Loyalität und wer stört wen durch welches Verhalten? Wer gewinnt wodurch Attraktivität und will ich als Zeuge mit dem Sieger oder dem Verlierer halten?

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‚Keine Lieder‘ ist eine kluge gruppendynamische Psycho-Studie, die die Entwicklung von Parteilichkeit in Freundschaft und von Zeugenschaft bei Machtausübung und Gewalt analysiert. Das Stück nutzt die Unmittelbarkeit der theatralen Situation, um die Zuschauer mit Fragen an ihre eigene Verführbarkeit zu konfrontieren, während sie unversehens in das Beziehungsdrama auf der Bühne hineingezogen werden.

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